Die ZEIT im Interview mit Helmut Pfleger

Ein Gastbetrag mit freundlicher Erlaubnis der ZEIT.

Von MICHAEL ALLMAIER

Fotos JULIAN BAUMANN

Er kommt pünktlich, fast überpünktlich. So, wie man das (übrigens oft zu Unrecht) von einem Schachspieler erwartet. Und er hat tatsächlich einen Motiv-Pulli an – weiße Schachfiguren auf schwarzem Hintergrund. Helmut Pfleger, seit vierzig Jahren Schachkolumnist im ZEITmagazin. Schon sein halbes Leben berichtet er hier aus der Welt seines Sports. Nun soll er mal von sich erzählen, der Großmeister, Ex-Nationalspieler, Arzt, Therapeut, Moderator, Autor. Der »Tausendsassa«, das wäre wohl so ein Helmut-Pfleger- Wort. Nur dass er nie von sich selbst so spräche; er ist ein bescheidener, ausgesucht höflicher Mann von 79 Jahren. Statt den Interviewer zu sich nach München zu bestellen, schaut er in der Redaktion vorbei – ein bisschen scheu, wie ein Nachwuchsautor, der sich vorstellen möchte. Doch wenn er mal ins Erzählen kommt, wird es ihm warm im Pullover. Ob er ablegen dürfe? Das Hemd hat kein Schachbrettmuster, kariert ist es allerdings schon. 

Herr Pfleger, Sie waren für mich immer der Mann mit dem Teufelsrappen, der tapferen Mähre, dem galoppierenden Ross. Wer im Westdeutschland der Achtzigerjahre Schach gespielt hat, der kannte Sie. Und der wusste auch, dass bei Ihnen ein Springer nie bloß ein Springer war. Sie fanden immer die farbigsten Bilder für diesen schwarz-weißen Sport. 

Ich hoffe zumindest, dass dieser Teufelsrappe, von dem ich sprach, ein schwarzer Springer war. Es stimmt: Ich habe immer gern mit Metaphern gearbeitet. Und ich kann mir vorstellen, dass Leute davon genervt waren. Aber Sie müssen bedenken, wie populär Schach vor vierzig Jahren war. Eine Übertragung im dritten Programm konnte schon mal eine Million Zuschauer erreichen. Manche von denen kannten wahrscheinlich gerade mal die Züge. Auch denen wollte ich vermitteln, was gerade Spannendes passierte auf dem Brett. 

Woher kam dieser Schach-Boom damals? 

Schach hatte eine enorme politische Brisanz. Begonnen hatte das in den Siebzigern. Die Weltmeisterschaft Fischer – Spasski: USA gegen Sowjetunion. Dann Karpow – Kortschnoi: der sowjetische linientreue Kommunist gegen den Dissidenten. Ich weiß noch, wie Kortschnoi damals sagte, er höre in Karpows Tasche die Ketten rasseln. 

Welche Ketten? 

Die Ketten, mit denen seine Frau in Russland festgehalten wurde. Viktor Kortschnoi war kein Mann, der Menschen etwas nachsah. Zum Glück kam ich immer gut mit ihm aus. In den Achtzigern folgte auf ihn dann Kasparow als der junge Rebell, der aufbegehrt. So setzte sich das bis zur Wende fort. 

Die Bundesrepublik hatte damals selbst einen Weltklassespieler. Ja, Robert Hübner, der 1980 beinahe um den Titel gespielt hätte und es sich tragisch verdarb. Er hat in einer entscheidenden Partie eine simple Springergabel übersehen. 

Hübner war nicht gerade der Boris Becker des deutschen Schachs.

Nein, wirklich nicht. Ein hochgebildeter, unglaublich wortgewandter, aber etwas schwieriger Mann, der sich dem Rummel um ihn komplett verweigert hat. 

In dieses Vakuum traten dann Sie mit Ihren Kolumnen und Fernsehauftritten – als das Gesicht des bundesdeutschen Schachs. 

Ja, vielleicht war das meine Rolle. Ich war der Umgängliche, der Vermittler, der mit dem Teufelsrappen. So ein Wort wäre dem Hübner nie über die Lippen gegangen. 

Als Sie im Herbst 1982 Ihre erste Spalte im ZEITmagazin schrieben, waren Sie selbst einer der stärksten deutschen Spieler. Sie hätten eine eigene Glanzpartie zeigen können; stattdessen porträtierten Sie eine damals wenig bekannte 19-jährige Schwedin, die bei einem Turnier in London fast gegen Kortschnoi gewonnen hätte, unter der Überschrift »Furchtlose Pia«. War das ein Statement zu einer Zeit, als viele glaubten, Frauen hätten für Schach die falschen Gene? 

Ehrlich gesagt weiß ich das nicht mehr. Ich kannte Pia Cramling schon eine Weile, seit 1978 in Buenos Aires; und ich mochte, wie angenehm und bescheiden sie war. Das geht mir bis heute mit meiner Kolumne so: Ich schreibe öfter über Leute, die mir sympathisch sind. Und mit Pia Cramling habe ich richtiggelegen. Sie wurde eine der besten Frauen im Schach und spielt noch heute sehr stark. 

Ich habe mir Ihr Debüt bei uns eben noch angeschaut. Es ist schon sehr Helmut Pfleger. Mit »Angriffswirbel« und »Pferdebraten« und Cramlings »schlauem Köpfchen«, das beinahe obsiegt. 

»Schlaues Köpfchen«? Ogottogott. Das ist wirklich lange her. 

Der Mauerfall war eine große Sache aus der Sicht eines Schachamateurs. Vorher dachte man vielleicht noch, man könnte spielen. Nun saßen einem selbst in der Bezirksliga Meister aus Bela- rus oder Usbekistan gegenüber, die unendlich viel besser waren. Schach war Nationalsport in der UdSSR, viel beliebter als etwa Fußball. Großmeister bekamen ein Gehalt vom Staat. Und nachdem sie dann ausreisen durften, kamen etliche nach Westen. Damals gab es hier einen Spitzenspieler, der eine Russenquote verlangte, damit nicht alle deutschen Trophäen irgendwo im Osten verschwanden. 

Ein Schach-Patriot? 

Nein, der kam selber aus Russland, nur schon lange vor der Wende. 

Sie spielten damals für Bamberg in der Bundesliga. 

Auch da wehte bald ein anderer Wind. Wir haben mal gegen Duisburg gespielt, da war mein Gegner der spätere Weltmeister Alexander Khalifman. Ich habe sogar gewonnen. Aber für den war das natürlich ein Ausrutscher. 

Sie waren immer stolz darauf, dass Sie als Amateur so weit gekommen sind. 

Nicht nur ich. Die westdeutschen Großmeister zu meiner Zeit waren Richter, Verleger, Computerspezialisten… Robert Hübner war Altphilologe, ich Arzt. Heute wäre das undenkbar. Da sind an der Spitze nur Profis. 

Ist das nicht ein Elend für Sie als Kolumnisten? Früher ließen sich Spitzensportler auf einer Trage ans Brett rollen, spuckten auf einen Regierungserlass oder schnitten Grimassen wie die Psychos aus Horrorfilmen. Heute herrschen die netten Nerds. 

Die Spieler von heute sind ruhiger, vernünftiger, vielleicht sogar netter – und bestimmt einseitiger geworden. Aber es gibt immer noch eine Menge Charaktere. 

Von Schachspielern glaubt man gerne, sie seien besonders schlau. Sie haben als Psychologe in diese Richtung geforscht. 

Dass Schach Menschen klüger macht, kann ich nicht belegen. Man muss wohl schon etwas mitbringen, um dieses Spiel zu mögen. Aber anscheinend hilft es dabei, den Verstand wachzuhalten, wenn man älter wird. Mein Proband dafür war Viktor Kortschnoi, der noch mit 80 Jahren, bis kurz vor seinem Tod, ein erstklassiger Spieler war. 

Ich hatte vor, Sie zu fragen, ob Schachspieler Wahrheitssucher sind. Nur weisen die Nachrichten gerade in eine andere Richtung. 

Meinen Sie Hans Moke Niemann (den 19-jährigen amerikanischen Großmeister, der gerade Partien gewinnt, wie es sonst nur Computer können, Anm. d. Red.)? Ich hatte von dem kaum gehört, bis die Betrugsvorwürfe kamen. Geschwindelt wurde immer im Schach: erst mit dem Taschenbrett auf der Toilette, wo man die Züge nachspielte, dann dank der Technik immer raffinierter. Verhindern kann man so etwas nicht. Und ihm wurde nichts nachgewiesen. 

Ich dachte eher an Sergej Karjakin, der vor sechs Jahren um den Weltmeistertitel spielte und nun für viele Turniere gesperrt ist, weil er als Russe Propaganda für Putin macht … 

… anders als viele russische Spieler, die gegen den Krieg pro- testieren. Es ist unsäglich, was Karjakin für einen Mist verzapft hat. Aber wie ich ihn einschätze, glaubt er, was er sagt. Ein naiver junger Mann, im Privaten sicher ein netter Kerl. Und einer, der bestimmt nie beim Schach betrügen würde. 

Darf ich Ihnen ein letztes Mal mit einem Helmut-Pfleger-Wort kommen? 

(höfliches Schweigen) 

»Herrlich«, damit beschreiben Sie die Züge, die man in Ihren Rätseln finden soll. »Wunderbar« ist auch so ein Wort. Oder »prächtig«. 

Sie haben über 2000 Schachkolumnen für uns geschrieben. Das macht gute 30 für jedes Feld. 

Ja, mich begeistert das immer noch, wenn sich eins ins andere fügt. Eine zwingende Logik, die zuerst überrascht. Und wenn man sie dann verstanden hat, ist alles richtig und gut. 

Ich habe mir einen Trick ausgedacht, um Ihre Aufgaben zu lösen. Ich probiere als Erstes den Zug, der am meisten Material verliert.

Ich hatte mal einen Leser, einen starken Spieler, der meine Texte mochte. Nur die Aufgaben passten ihm gar nicht. 

Dass man da immer die Dame opfert, war ihm zu vulgär. Aber ich sehe es an den Einsendungen: Die Rätsel sind schon zu schwer. 

Stimmt es, dass ein besonders treuer Leser Ihnen über Jahre seine Lösungen in der Form von Aquarellen geschickt hat? 

Ja, ich habe mittlerweile eine stolze Sammlung davon. 

Und hat er immer das richtige Opfer gefunden? 

Das war ein so netter Mann. Und so ein aufrichtiges Bemühen. Leider lag er fast immer daneben.