von Dr. Helmut Pfleger
Nun ist also schon die 30. Deutsche Ärzteschachmeisterschaft Geschichte – davon deren
letzten drei allesamt unter Pandemiebedingungen mit den entsprechenden Einschränkungen
und bei manchem auch Befürchtungen. Was naturgemäß auch zu einer geringeren
Teilnehmerzahl führte, immerhin waren aber diesmal vom 18. – 20. März in Bad Homburg
schon wieder über 92 gekommen – mal schauen, was uns das Coronavirus im nächsten Jahr
beschert … oder besser nicht beschert! In jedem Fall können sich die Ärzte nach der
liebenswürdigen Einladung durch OB Alexander Hetjes wieder auf Bad Homburg freuen, die
einzige kleine Meinungsverschiedenheit gab es bei der Eröffnung am Freitagabend zwischen
diesem und dem Präsidenten von MedChess e.V., Prof. Krauseneck aus Bamberg, welches die
schönste Stadt Deutschlands sei. Salomonisch einigte man sich darauf, dass beide
wunderschön seien.
Immerhin gibt es drei Ärzte, die seit dem ersten Mal 1993 in Baden-Baden immer dabei
waren: Prof. Dr. med. Peter Krauseneck, Dr. med. Martin Schaefer und Dr. med. Branko
Spasojevic.
Wobei Letzterer in nimmermüder Kleinarbeit und nächtelanger Internetrecherche fast alle
bisherigen 728 (!) TeilnehmerInnen ausfindig gemacht und deren Fachrichtungen zugeordnet
hat – das war wie „eine zweite Doktorarbeit“ (Spasojevic)! Ganz sicher eine gelungene, denn
künftig kann man immer auf diesen Schatz, der „Licht in ein 30-jähriges Ärztedunkel bringt“,
zurückgreifen. Und muss sich nicht – wie ich wiederholt – verwundert fragen, warum
ausgerechnet die Neurologen (Prof. Krauseneck ist beispielsweise einer) oft so gut
abschneiden und dafür besondere zerebrale Synapsenverbindungen vermuten, sondern kann
aus der Statistik ablesen, dass diese schlichtweg nach den Internisten und Allgemeinärzten die
dritthäufigste Teilnehmergruppe darstellen.
Zum Dank für diese Herkulesarbeit gab es eine wunderbare, vom „Künstler-Arzt“ Dr. med.
Jan Wähner gestaltete Skulptur, bei der sich eine Äskulapschlange um einen König windet –
ein perfektes Symbol fürs Ärzteschach!
Jetzt wird jemand gesucht, der diese für das Ärzteschach nicht nur höchst verdienstvolle,
sondern auch identitätsbildende Arbeit von Dr. Spasojevic fortsetzt – schließlich soll das
Ärzteschachturnier noch lange leben. Ad multos annos!
Solch ein Turnier lebt natürlich neben spannenden Partien, schönen Kombinationen und
gelegentlich auch groben Patzern von der besonderen Atmosphäre und den vielfältigen
Begegnungen und – gar nicht selten – Freundschaften, die dort geknüpft werden.
Sie sind der eigentliche Kitt, der so viele zu „Wiederholungstätern“ macht und alljährlich
gerne wiederkommen lässt. So war es für mich umgekehrt sehr schmerzlich, nach meiner
Rückkehr nach Hause am Sonntagabend zu erfahren, dass Prof. Dr. med. Eberhard Schwinger
aus Lübeck just am Freitag, dem Eröffnungstag, verstorben war. Wie gerne erinnere ich mich
unserer morgendlichen Plaudereien „über Gott und die Welt“ im Swimming Pool vor
Turnierbeginn, bei denen ich von diesem feinsinnigen Menschenfreund und renommierten
Humangenetiker erfuhr, dass die Maus mit 33.000 Genen zumindest quantitativ besser als der
Mensch mit nur 28.000 ausgestattet sei – allerdings hat sie offenbar kein Schachgen.
In den frühen 60er Jahren war dieser Kosmopolit als stud. med. Betreuer auf einer
Ausgrabung des Deutschen Archäologischen Instituts in Westpersien und konnte einem von
einer Giftschlange gebissenen persischen Helfer (damals dort ein sicheres Todesurteil) mit
einem polyvalenten Schlangenserum helfen, so dass dessen schon vorbereitetes Grab wieder
zugeschüttet werden konnte. Woraufhin die ganze Umgebung all ihre Kranken, die mühselig
und beladen waren, zu diesem Wunderheiler alias stud. med. brachte – ich stelle mir dies wie
einst bei Jesus Christus vor.
Aus dieser Zeit blieben bei ihm einige persische Brocken hängen, so dass er – wir sind immer
noch im Swimming Pool – Dr. Bawandi stilgerecht mit „Daste shoma dard nakoneh“ (möge
Ihre Hand nicht schmerzen!) begrüßen kann, worauf dieser entsprechend antwortet: „Sare
shoma dard nakoneh“ (Und auch nicht Ihr Kopf!). Das kann jeder gebrauchen, zumal bei
einem Schachturnier.
Natürlich konnte er sich auch mit Dr. med. Gunnar Riemer (schon wieder ein Neurologe!),
der als Kind jahrelang in Teheran auf die Deutsche Schule ging, über dieses wunderbare Land
austauschen. Dieser wiederum brachte mir jetzt beim Turnier das von ihm selbst übersetzte
Gedicht „Die Quelle und der Stein“ vom ‚König der Dichter‘ Mohammad-Taqi Bahar und
persisches Zuckergebäck von einem Besuch in Isfahan mit. Aus dieser einzigartigen Stadt,
aus der mein leider schon vor Langem verstorbener Freund Dr. med. Modjtaba Abtahi
stammte, der als Studentenführer vor dem Schah (man beachte die etymologische
Verwandtschaft mit „Schach“ = König) nach Deutschland floh und auch später, diesmal
wegen seiner Gegnerschaft zu Khomeini, nicht in sein Heimatland zurückkonnte, mit dem
zusammen ich in Erlangen studierte, der später Chef der Unfallchirurgie im Prosper-Hospital
in Recklinghausen werden sollte und der mit seinem orientalischen Humor viele
Ärzteschachturniere bereicherte.
So spinnt und spann sich über all die Jahre auch ein deutsch-persisches Geflecht. Vergessen
wir nicht, dass einst im frühen Mittelalter das Schachspiel von Indien nach Persien (und von
dort über Arabien nach Südeuropa) kam, wie der große persische Geschichtsschreiber
Firdausi um das Jahr 1000 im „Buch der Könige“ berichtet – ansonsten gäbe es jetzt vielleicht
kein Ärzteschachturnier?!
Aber es spinnen sich auch immer wieder neue Geflechte, die den Reiz des Menschseins
überhaupt und den besonderen Reiz des Ärzteschachturniers voller vielfältiger Begegnungen
ausmachen.
Und gar nicht selten auch unmittelbar nützlich sind. So entdeckt der Hautarzt Dr. med.
Matthias Birke bei mir wieder eine neu aufgeflammte Aktinische Keratose und empfiehlt mir
die gleiche Therapie, die trotz oder vielmehr gerade wegen einer starken Immunreaktion
schon vor drei Jahren erfolgreich war. Oder der Augenarzt Dr. med. Hans-Joachim Hofstetter
kann beim abendlichen Essen den Onkologen Dr. med. Dieter Hardt bei dessen
Augenproblem beruhigen. Oder der Kardiologe Dr. med. Patrick Stiller kann dem
Allgemeinarzt Dr. med. Matias Jolowicz bei einem plötzlich während der Partie aufgetretenen
symptomatischen Vorhofflimmern (ich kann Lieder davon singen) etwas verschreiben, so
dass dieser bald darauf wieder frohgemut mit einem Sinusrhythmus comme il faut durch die
Gegend läuft.
Nicht immer freilich läuft es so glimpflich ab. So hatten der mehrfache Landesmeister von
Mecklenburg-Vorpommern und zweimalige Sieger des Ärzteschachturniers, Dr. med. Hannes
Knuth, und Dr. med. Jens-Frieder Mükke schwere Verkehrsunfälle mit einer langwierigen
und teilweise auch andauernden Beeinträchtigung. Dennoch waren beide auch heuer wieder
dabei. Natürlich ist die unschätzbare Unterstützung durch ihre Ehefrauen, beide selbst
Ärztinnen, von größter Wichtigkeit, aber Schach als Heilmittel kann vielleicht auch sein
kleines Scherflein zur Gesundung und zur Lebensgestaltung beitragen. Wie schrieb doch der
große spanische König Alfons X. der Weise schon 1283: „Schach bietet dem Menschen
Zerstreuung, wenn Kummer und Schmerz ihn zu übermannen drohen.“
Immer wieder schön ist es, wenn junges Leben durch Spielsaal und Foyer tobt und zuweilen
auch lärmt; unwillkürlich denkt man, dass einem bei solchem Nachwuchs um die Zukunft
nicht bange sein muss. Seien es die Sprösslinge einiger jüngerer KollegInnen, seien es die
Enkel vom ehemaligen stellvertretenden Chefredakteur des Deutschen Ärzteblatts und
Begründer des Ärzteschachturniers, Josef Maus, der als „Kommunikator“ mit seiner Familie
nach wie vor eine „Säule“ des Turniers ist, wovon nicht zuletzt dankbare TeilnehmerInnen
des Begleitprogramms – diesmal ging es ins Schloss – zu berichten wussten.
Aber natürlich wurde zu allererst Schach gespielt.
Nach der wie stets launigen Begrüßung durch OB Alexander Hetjes (der sich offenbar sowohl
in und mit seiner Stadt als auch mit den schachspielenden Ärzten wohlfühlt), der aber
durchaus auch den furchtbaren Krieg in der Ukraine ansprach, gab es wie stets alternativ ein
Simultanspiel oder Blitzschachturnier.
Beim Simultan, das diesmal mein alter Freund Vlastimil Hort (einst einer der besten Spieler
der Welt, der bei einem früheren Ärzteschachturnier auch schon an 10 Brettern blindsimultan
spielte) und ich gemeinsam bestritten, indem wir alternierend zogen (jeder der Ärzte hatte es
also quasi mit zwei Köchen zu tun), mussten wir an 22 Brettern neben einigen Remisen auch
drei Mal aufgeben.
Gegen Dr. med. Ulrich Weiß aus Lemgo gingen wir gar in einem Mattangriff unter:
(wKg1, De2, Td2, Tf1, Lc2, Sd1, Ba4, b3, c4, e4, f2, g2, h3;
sKg8, De7, Tf8, Tf4, Lg7, Se5, Ba6, b7, c5, d6, e6, g6, h7)
Nach dem schönen Springeropfer 1…Sf3+! hätten wir nur mit der Qualitätsaufgabe nach
2.Kh1 Sxd2 auf ein längeres, wenn auch unerfreuliches Überleben hoffen können. Nach
2.gxf3 Dg5+ 3.Kh1 (3.Kh2 Le5 4.Tg1 Txf3+) Th4 4.Kh2 Le5+ nebst Matt in zwei Zügen
gab es hingegen ein Ende mit Schrecken.
Anlässlich dieses besonderen Simultanspiels hatte die weltweit führende Firma Chessbase in
Hamburg dankenswerterweise für jeden unserer Gegner unsere gemeinsame DVD „Moderne
Klassiker“ gespendet.
Beim gleichzeitigen Blitzschachturnier „wütete“ Prof. Krauseneck mit 10,5 Punkten aus 11
Partien schier unter seinen Gegnern, unter anderen dem schon fünfmaligen Sieger des
Ärzteschachturniers Dr. Stiller. Einmal mehr bewies der Neurologieprofessor aus Bamberg,
immerhin auch schon zwei Mal Sieger des Ärzteschachturniers, sein großes
Schachverständnis. Doch eine Schwäche gibt es bei ihm sehr wohl zu beklagen: In seiner
Partie gegen den Fide-Meister Dr. med. Amir Rezazadeh im „Hauptturnier“, die er im
Übrigen „hochverdient“ verlor, hätte er, allerdings schon in beiderseitiger Zeitnot, einzügig
(!) mattsetzen und so die Partie „auf den Kopf stellen“ können. Das muss er offenbar noch
üben, nachdem er in Bamberg bei einem Sportfest, an dem auch der Schachclub 1868
Bamberg teilnahm, eine Unzahl von einzügigen Matts, die er selbst hätte geben können,
übersah und sich ausgerechnet von einem leibhaftigen Esel selbst einzügig mattsetzen ließ –
alles dokumentiert mit Bild im „Fränkischen Tag“ – „Esel setzt Professor matt!“
Im Gegensatz zu solch eklatanter Bamberger Schwäche löste beim Abendessen die badische
Delegation sogar ein „Matt in 2“ mit leichter Hand. Nicht nur deshalb können wir froh sein,
dass wir praktisch seit Anbeginn diese tüchtige Badenser Turnierleitung mit Jürgen Damman,
Alexander Krauth, Reinhold Faißt und Irene Steimbach haben, die alle Probleme souverän
meistert.
Ebenso souverän wie Prof. Krauseneck im Blitzschachturnier „spazierte“ der Fide-Meister Dr.
med. Enrico Marchio im eigentlichen Hauptturnier der 30. Deutschen Ärztemeisterschaft –
wie immer mit neun Schnellschachpartien – mit 8,5 Punkten aus 9 Partien durch die Reihen
seiner Gegner – erst in der letzten Partie war sein Siegeshunger gestillt und gab er sich mit
einem Remis zufrieden. Auch hier ist alles Nähere aus der Tabelle zu ersehen.
Natürlich ist – als integraler Bestandteil der Ärzteschachmeisterschaften und quasi als
conditio sine qua non – der Buchstand des Schachehepaars Manfred und Monika Mädler, bei
dem man zwischen den Runden wunderbar stöbern kann, nicht wegzudenken – auch wenn ich
diesmal den ewigen Ladenhüter „Der Arzt im Schachspiel“ vergeblich suchte.
Vor allem dank des Kollegen und Diabetologen Dr. med. Richard Berthold unterstützt
erfreulicherweise die Firma Prowin seit Jahren das Ärzteschachturnier mit kleinen Gaben für
jedermann und einem ansehnlichen Geldbetrag. Bei dieser „Gebefreudigkeit“ sei nicht
vergessen, dass allen teilnehmenden Ärzten als Erinnerung zum 30-jährigen Jubiläum das
prächtige Buch Wie aus Träumen Traditionen wurden – 100 Jahre Schachturnier in Hastings
überreicht wurde.
Und nicht vergessen sei die vorzügliche Unterbringung in den beiden „Schachhotels“, dem
Maritim und Park-Hotel – das letztere mit der Besitzerfamilie Petry hat im Lauf der Jahre
schon viele hochkarätige Schachturniere, teilweise mit den stärksten SpielerInnen der Welt
veranstaltet.
Zum Abschluss (weitere kleine Schlaglichter werden folgen) noch eine kleine, gefällige
Kombination von Dr. Mükke gegen eine der beiden teilnehmenden Damen, Dr. med. Irina
Mattiesen:
(wKg1, Df5, Td1, Tf1, Ld2, Sh5, Ba3, c3, c2, f2, g2, h2;
sKe7, Df8, Ta8, Th8, Lb6, Sc6, Ba7, b7, e5, g5, h6)
Wie konnte der passionierte Schachsammler Dr. Mükke aus Naumburg als Weißer am Zug
ganz schnell gewinnen?
Lösung:
Mit dem Läuferopfer 1.Lxg5+! Nach 1…hxg5 2.Dd7 war der in der Mitte hängengebliebene
schwarze König matt.
Immer wieder schön, wie Herr Pfleger die Kulturgeschichte des Schachs, ärztliche Kollegen und Fachrichtungen mit ihren Eigenheiten, persönliche Erlebnisse und das konkrete Spiel auf amüsante wie elegante Weise verknüpft. Damit ist Dr. Pfleger eine der wichtigsten Konstanten in der 30-jährigen Geschichte des Turniers. Vielen Dank dafür, lieber Herr Pfleger!