Teil 5 der Gastbeitrags-Reihe zum Online-Schach: Cheater beim Online-Schach

von Dr. Franz-Jürgen Schell


Der enorme, Pandemie getriggerte Boom von online Schach hat auch ein spezielles Problem verstärkt: Computer Doping. Die bereits erwähnte Plattform Chess.com verzeichnete bei der Zahl der neuen Spieler einen Anstieg von 6,5 Mio. 2019 auf 12 Mio.. Noch deutlicher war der Anstieg der aufgrund von „Cheating“ gesperrten Profile: von den 5- 6.000 monatlich stieg sie auf 17.000 – jeden Monat. Das sind allerdings nur die „Erwischten“. Die Fair Play Teams der Schachseiten haben Personal aufgestockt und versuchen mit Algorithmen den Betrügern das Handwerk zu legen. Unter den Betrügern bei Chess.com waren übrigens sogar über 400 Titelträger.

Doping mit der Engine
Doch wie wird Computer Doping überhaupt praktiziert? Der Spieler lässt ein Programm, eine Engine wie Stockfisch mitlaufen, z.B. in einem anderen Fenster des PC oder auf einem anderen Gerät. Dann gibt er die Züge des Gegners ein und lässt sich eigene vorschlagen. Weil das Zeit kostet, ist cheaten im Prinzip erst ab einer Bedenkzeit von 3+2 bzw. 5 Min./Partie möglich. Bullett mit Bedenkzeiten von 1-2 Minuten sind dafür eigentlich zu schnell, es sei denn eine Hilfsperson bedient das Programm – was beim Blitzen natürlich auch noch mehr erfolgreichen Betrug ermöglichen würde.
Typische Auffälligkeiten
Eine extreme Diskrepanz zwischen dem Rating eines Spielers und ist der auffälligste Hinweis. Ich hatte zwei Mal eindeutige Cheater, die bei einem Rating von 1200 bzw. unter 1700 komplett fehlerlose Partien spielten. Ein charakteristisches Symptom sind auch sehr gleichmäßige Bedenkzeiten bei allen Zügen – ein menschlicher Spieler zieht Selbstverständliches sofort, denkt an anderer Stelle länger. Klar sind auch wundersame Verschlechterungen der Züge in Zeitnot, wenn beispielsweise Eröffnung und Mittelspiel perfekt absolviert wurden, aber im Endspiel mit nur noch 30 Sekunden Restzeit ein unerklärlicher Einbruch erfolgt. Nicht zuletzt sollten auch ausgesprochen ungewöhnliche Züge stutzig machen, auf die menschliche Spieler nicht kommen.

In vier Partien fehlerfrei bei einem Ranking von ca. 1700 gegen Spieler von >2100 gewonnen, das ist suspekt – der Account ist inzwischen geschlossen.
Natürlich wissen Cheater inzwischen auch sehr gut, wie man ihnen auf die Schliche kommen kann. Daher haben die Cleveren unter ihnen ihre Strategien angepasst, nehmen nicht jeden Computerzug oder setzen ihre elektronische Leistungssteigerung nur sporadisch ein.
Die Schachplattformen sagen aus guten Gründen nicht, wie sie Cheater erwischen. Sie haben natürlich ein großes Interesse, Betrüger aufzuspüren, um den Unmut ihrer ehrlichen Mitglieder zu vermeiden. Anderseits wirkt es speziell bei Lichess manchmal so, als sei das Bedürfnis nach Verfolgung auch limitiert, um nicht zu viele Spieler zu verlieren. Tatsächlich ist die Gratwanderung zwischen unberechtigter Anschuldigung und eindeutigem Verstoß nicht immer einfach.


Prominente Verdachtsfälle
Trotzdem kam es sogar zu prominenten Fällen: Der Lichess-Account des einstigen Juniorenweltmeisters Parham Maghsoodloo wurde während des „Levitov Chess Christmas Cup“ gesperrt. Damit ist er als Nr. 59 der Welt der beste Spieler, der bislang der Computerhilfe überführt wurde. Im Finale der Chess.com Pro Chess League besiegten die Armenia Eagles die mit Spielern wie Fabiano Caruana, Wesley So und Leinier Dominguez bärenstark besetzte Mannschaft der Saint Louis Arch Bishops – bis Spitzenspieler Tigran L. Petrosian von Chess.com wegen Verstoßens gegen die Fairplay-Regeln lebenslang gesperrt wurde. Neben der auffälligen Übereinstimmung vieler seiner Züge mit den Computerempfehlungen fiel bei der Webcam-Kontrolle auf, wie oft er statt auf den Bildschirm nach unten schaute, mutmaßlich auf ein Handy oder Tablet. https://en.chessbase.com/post/cheating-controversy-at-prochessleague
Bei den Armenia Eagles spielten mit Tigran L. Petrosian (vorne) und Parham Maghsoodloo (rechts) gleich zwei des Cheatings Verdächtigte gegen das Supergroßmeister Team der Saint Louis Arch Bishops.

https://en.chessbase.com/post/cheating-controversy-at-prochessleague


In eine ganz andere Form der Manipulation war die beste deutsche Großmeisterin Elisabeth Pähtz involviert, die wir vom Simultan bei der letzten Ärzteschachmeisterschaft kennen. Obwohl sie zweifellos eine hervorragende Spielerin (Lichess Rating 2528) ist, schlug sie – bzw. ihr Account(!) – Anfang August in einem Turnier für Titelträger überraschend den russischen Großmeister Vladimir Fedoseev (Rating 2765) in einer beeindruckenden Partie. Auch hier kam es zu einer Sperrung, allerdings ging es hier nicht um Computerhilfe, sondern darum, dass offenbar jemand anderes ihr Profil gekapert und unter ihrem Namen gespielt hatte. So hat sie es selbst erklärt. Man vermutet Levon Aronian dahinter. Aber warum sollte ein Top Ten-Spieler so etwas machen?

Elisabeth Pähtz wurde nach eigenen Angaben bei einem online-Blitzturnier gedoubled.


Was treibt Cheater an?
Über die Motivation von Cheatern gibt es m. W. noch keine Untersuchungen. Wenn ein Profispieler Geldgewinne oder Siegprämien erwartet, ist es vielleicht noch verständlich wenn auch nicht gerechtfertigt, nachhelfen zu wollen. Aber bei Amateuren? Es liegt nahe, hier ein übersteigertes Geltungsbedürfnis zu vermuten oder extremen Ehrgeiz, möglicherweise verbunden mit einem Gefühl von Macht. Cheater können dabei wie in eine Abhängigkeit geraten, zeigt ein interessantes Interview.
Betrugsfälle gab und gibt es übrigens auch immer wieder beim Spiel am Brett.


Wie Großmeister mit Cheating umgehen
Eine aufschlussreiche Cheaterpartie zeigt Großmeister Niclas Huschenbeth auf seinem YouTube Kanal. Die Reaktion der Großmeister auf gegnerische Manipulation ist unterschiedlich. Während Huschenbeth und seine Kollegen Ilja Zaragatski und Arkadij Naiditsch es eher als ein unveränderbares Übel wie das Nilhochwasser betrachten und bei Verdacht den Gegner nur für eigene Begegnungen blocken, sind die Großmeister Gata Kamsky und Baadur Jobava wegen Cheatern nicht mehr viel auf Lichess.org aktiv. Der Georgier Jobava hat aus Wut über einen Cheater und die in seinen Augen falsche Reaktion der französischen Plattform, die ihm einen Turniersieg kostete, dort seinen Account geschlossen.

Der georgische Großmeister Baadur Jobava mit der von ihm geprägten Variante des Londoner Systems.


Der gebürtige Russe Kamsky, der die amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt und derzeit in Straßburg lebt, wurde hingegen von Lichess von der Liste der Streamer gestrichen. Der Grund: Kamsky meldet konsequent jeden Cheating-Verdacht. Wenn also ein FIDE-Meister ihn mit auffälliger Präzision schlägt, „reported“ er ihn. Das wurde Lichess offenbar zu viel und sie sanktionierten ihn, statt den Vorwürfen nachzugehen. Nicht mehr als Streamer aufgeführt zu sein, ist für Schachprofis, die in der Pandemie damit ihren Lebensunterhalt verdienen, sehr unangenehm. Jetzt ist Kamsky stattdessen auf Chess.com aktiv.

Gata Kamsky ist von Lichess auf Chess.com umgezogen.


Ich selbst habe meine eigene Konsequenz aus einem eindeutigen Cheating in der Quarantäneliga, das mich viele Ratingpunkte kostete und bei dem Lichess nicht reagierte, gezogen. Mit meinem eigentlichen Account spiele ich nur noch Turniere mit Leuten die ich kenne, wie z.B. die Turniere des Ärzteschachs. Bei Veranstaltungen mit erhöhtem Betrugsrisiko trete ich mit einem (eigentlich nicht erlaubten) Zweitaccount an. Dessen Rating spielt keine Rolle und ich ärgere mich nicht mehr, gelegentlich aufgrund von Cheating zu verlieren.
Folgen der Cheating-Pandemie
Der Betrug ruiniert nicht nur vielen Schachfreunden den Spaß am Spiel und erschwert die Bestimmung von Spielstärken. Durch seine weite Verbreitung fördert es auch Misstrauen und Paranoia. So tritt die fantastische Möglichkeit, jederzeit mit anderen Schachinteressierten aus Chile, China oder den USA jederzeit spielen zu können, in den Hintergrund. Kann online Schach das Cheating überwinden fragten bereits vor einem Jahr die „Perlen vom Bodensee“.

Schachaufgabe
Möglicherweise hegte der niederländische IM Pieter Hopman mit Weiß nach dieser Blitzpartie gegen mich in der Quarantäne Bundesliga auch den Verdacht, gegen einen Cheater verloren zu haben, immerhin trennten uns fast 400 Ratingpunkte. Denn als ich mir die Partie noch einmal ansehen wollte, hatte er schon die Computeranalyse veranlasst. Wie man aber anhand der vollständigen Partie unschwer erkennen kann, waren hier auf beiden Seiten häufig irrende Menschen am Werk, denn später übersah ich mehrfach die Möglichkeit in zwei Zügen Matt zu setzen. In der Diagrammstellung sind die schwarze Dame und der König arg unter Druck und abwehrende Figuren weit weg. Gerade hat Weiß gerade mit Sf6 einen giftigen Abzug mit Doppelgardez durchgeführt, der die Dame gewinnt. Aber der Computer hat diesen Zug als dicken Fehler entlarvt und sieht Schwarz in entscheidendem Vorteil. Das wusste ich in der Partie natürlich nicht, hatte aber tatsächlich den suboptimalen weißen Rösselsprung erwartet (dabei wäre er nach d6 viel unangenehmer für mich gewesen.) Was spielte Schwarz?

Lösung:

  1. Sf6? – Tg2:+
  2. Kh1 (Kg2: – Sf4+) – S5f6:
  3. Lh7: – Tg3+
  4. f3 – Th3:
  5. ef6: – Th6: und Schwarz gewann