Gastbeitrag: Wie geht das? Tipps für Einsteiger beim online spielen

von Dr. Franz Jürgen Schell


Wenn man das klassische Schach mit weiteren Figuren gewohnt ist („over the Board“), erscheint das Onlinespielen per Computer merkwürdig. Ich zumindest hatte lange Zeit Aversionen dagegen und begann erst im April 2020, mich aufgrund mangelnder Alternativen darauf einzulassen. Es ist eigenartig, dem Gegner nicht in die Augen schauen zu können, noch nicht einmal zu wissen wer er ist, wie er aussieht oder oft auch nur aus welchem Land er kommt.
Aber das Onlinespielen bietet auch eine Reihe von Vorzügen. Ich kann jederzeit, frühmorgens oder mitten in der Nacht, Spielpartner finden und dabei selbst die gewünschte Bedenkzeit festlegen. Ich kann am Rechner im Arbeitszimmer spielen, aber auch auf der Wohnzimmercouch, auf dem Balkon, ja sogar im Bett oder in der Badewanne …Ebenso zeitlich flexibel kann ich an Turnieren teilnehmen oder an Mannschaftswettkämpfen, die – in der Quarantäneliga zum Beispiel – zweimal pro Woche stattfinden und damit eine Frequenz erreichen, die es im klassischen Blitz so kaum gibt. Ich finde auch für altbekannte wie auch skurril-verschrobene Schachvarianten wie Räuberschach oder Tandem immer passende Gegner.
Voraussetzungen, um online Schach zu spielen, sind lediglich eine E-Mail-Adresse und ein Internetzugang. Kosten fallen nicht zwangsläufig an. Das Onlinespielen ist bei den meisten Plattformen unentgeltlich möglich. Oft ganz anonym, als Gast oder mit einem selbst gewählten Alias. Letzteres ist weitaus reizvoller, weil man mit zunehmender Zahl an Partien ein immer präziseres Rating der eigenen Spielstärke erhält und dann bei freien Partien und teilweise auch bei Turnieren Gegner mit ähnlicher Spielstärke zugelost werden.


Bei der Anmeldung auf einer der großen Plattformen wie https://www.chess.com/de oder https://www.lichess.org wählt man ein Pseudonym oder Nickname sowie ein Passwort und schon kann’s losgehen. Unter uns Ärzten sind als Pseudonyme der eigene Name, Bezüge zum eigenen Fachgebiet oder zu fiktionalen Geschichten bis hin zu Symptomen beliebt. Gerne werden auch Wortspiele und Bezüge auf berühmte Schachspieler gewählt. Es geht aber auch andersherum: Sollten Sie auf einen starken Gegner namens Dr. Nykterstein treffen, dann sitzen Sie keinem Akademiker oder gar Kollegen gegenüber, sondern dem Weltmeister Magnus Carlsen persönlich.
Wer es nicht sofort mit einem Gegner aus dem Internet versuchen will, kann auch Rätsel lösen („Puzzles“) oder zunächst gegen den Computer spielen. Der bietet verschiedene „Spieler“ mit unterschiedlichen Eigenschaften an.

Auch gegen die fiktive Schachmeisterin Beth Harmon aus der Serie „Damengambit“ von Netflix kann man auf verschiedenen Plattformen spielen.


Gespielt werden kann auf einem Computer (Desktop oder Notebook) ebenso wie auf einem Tablet oder Handy. Für die mobilen Geräte gibt es Apps, die das Spiel erleichtern. Technische Probleme wie unsichtbare Figuren oder Verbindungsabbrüche sind damit weniger häufig. Ein Nachteil ist jedoch die schlechtere Möglichkeit zu „premoven“, also ein oder mehrere Züge im Voraus festzulegen, ungeachtet von der Antwort des Gegners. Das kann bei Entscheidungen, wenn es um wenige Sekunden geht, auch schon einmal Punkte kosten.
Das Premoven ist z.B. im Endspiel hilfreich, wenn ich einen Bauern zur Umwandlung vorschieben muss. In der Eröffnung kann es zum Desaster führen. So beobachtete ich, wie weiß nach g3 offenbar Lg2 vorab festgelegt hatte und nach dem schwarzen Lh3 Läufer und Turm verlor …
Es gibt fünf Kategorien bei der Bedenkzeit pro Partie und Spieler:
⦁ Bullet bzw. Ultrabullet: 1-2 Min. bzw. 30 Sek.
⦁ Blitz: 3-5 Min.
⦁ Schnellschach: 10-30 Min.
⦁ Normal: über 30 Min.
⦁ Fernschach: mehrere Tage

Die meisten Plattformen wie hier Lichess.org bieten eine große Auswahl an Bedenkzeiten und lassen auch selbst gewählte Zeitvorgaben zu.


Die gewählte Bedenkzeit lässt sich mit einem „Inkrement“ kombinieren. Das bedeutet für jeden Zug gibt es einige Sekunden zusätzlich als Bedenkzeit. Beliebte Kombinationen sind zum Beispiel 2+1 (2 Min. + 1 Sek. Inkrement) oder 3 + 2 (3 Minuten + 2 Sekunden je Zug).
Das Rating wird auf Lichess für jede Kategorie vergeben. Bei mir z.B. ist es im Bullet weit mehr als 100 Punkte schlechter als im Blitz und Schnellschach, offensichtlich ein typisches Phänomen bei – nun ja, nicht mehr ganz so jungen Menschen. Denn auch ohne Polyarthritis der Finger, Hirndurchblutungsstörungen oder beginnende Demenz sind die extrem schnellen Spielformen ein Primat der Jugend und von Spezialtalenten.
So verweigert sich der bereits erwähnte Großmeister Gata Kamsky dem Bullet und verweist darauf, dass er dafür zu alt sei. Dabei gälte der Frührentner im Ultraschnellschach in fast allen medizinischen Fachrichtungen – mit Ausnahme der Pädiatrie – als juveniler Patient, er ist 46! Der ebenfalls schon bekannte IM The Big Greek ist zwei Jahre älter und spielt (noch) Ein-Minutenpartien, gewährt seinen Gegnern dabei sogar mehr Bedenkzeit. Allerdings spielt Georgios Souleidis, wie er bürgerlich heißt, gegen seine Follower und deren Rating ist zwischen 300 und 1.200 Punkte schlechter. Das scheint das Altershandicap wettzumachen…
Mit welchen bösen Überraschungen man gerade beim Hyperbullet-Schach rechnen muss, erlebte kürzlich der Supergroßmeister Anish Giri, der bei einem Stream von GM Niclas Huschenbeth zu Gast war. Er wurde vom Fritzi_2003 zu 30-Sekunden-Partien herausgefordert. Dabei hatte der Niederländer russisch-nepalesischer Abstammung, immerhin Nr. 11 der Weltrangliste, größte Mühe gegen den jungen Streamer, der mehrere Partien durch Zeit gewann, meistens auf Verlust oder einen Zug vor dem Matt stand. https://www.youtube.com/watch?v=j58mK0MZvIM
Giri entging nur ganz knapp einer Megablamage und gewann, denn Huschenbeth erklärte das Duell für beendet, als Giri endlich einen Punkt mehr hatte. Die Zuschauer, von denen sich wohl einige auch die Gelegenheit auf eine Partie gegen den Weltklassespieler erhofft hatten, genossen die gleichermaßen blitzschnelle wie verbissene Auseinandersetzung allenfalls partiell: Ließ die Geschwindigkeit kaum das Verfolgen der Pläne oder gar eine sinnvolle Kommentierung der jeweiligen Partie zu.

Im Hyperbullet Match gegen Fritzi_2003 war der war der sonst so sympathisch und humorvoll auftretende Großmeister Anish Giri sichtlich unzufrieden.


Wer also mit online-Schach beginnt, sollte ein Zeitformat wählen, das angenehm ist. Auch sollte man dabei die Möglichkeit des Inkrements nutzen, lässt sich so ein Verlust durch eine frustrierende Zeitüberschreitung vermeiden. Und wer zunächst einmal mit Spielern die Klinge kreuzen möchte, die er kennt, dem seien unsere Ärzte-Schachturniere nahegelegt, hier der Link zum Team: https://lichess.org/team/arzteschach.

Das schachliche Konsil mit Dr. FJS:
Wie hätten Sie gezogen? 

Diese Partie gewann Giri, obwohl er mit 12 gegen 17 Sekunden wieder arg in „Zeitnot“ geraten war. Behaupte doch niemand, man könne in maximal einer halben Minute keine Partie mit Matt beenden! Wie setzte der niederländische Supergroßmeister in vier Zügen matt, weil Fritzi mit den flinken Fingern zu gierig war und sein Angebot nicht abzulehnen vermochte?

Lösung: Sf5-gf?? (Se8! hätte Fritzi gerettet, weil die zweite Mattdrohung Se7: vom anderen Springer auf d5 verhindert wird)
Tg3+ – Sg4
Txg4+ fg
Tg4:#

Über den Author:

Kurzbio: Dr. med. Franz Jürgen Schell, *1961, beruflich Medizinischer Pressesprecher der Asklepios Kliniken. Turnierschachspieler 1978-1982, damals Ingozahl 95 (entspricht 2080 Elo). Beste Leistungen: zeitgleich Rheinlandmeister der Jugend und Herren, Sieg als 17-Jähriger im Simultan gegen Dr. Robert Hübner. 1982-2017 schachliche Pause (mit Ausnahme der Ärzteschachmeisterschaft natürlich!) wg. Studium, Arbeit, Familiengründung und anderer zeitraubender Nebensächlichkeiten. Seit 2017 in der Betriebssportmannschaft Schach des Maßregelvollzugs der Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll und seit Januar 2020 wieder Turnierschach in einem kleinen Verein: Bramfelder Schachklub 1947. Wegen fehlendem Schach am Brett seit April 2020 leidenschaftlicher online-Spieler.