Gastbeitrag von Dr. Franz Jürgen Schell: Schach im Netz Teil 2: Twitch.tv

„Tanzen, Singen – und Schach trainieren“


Ich kannte Twitch.tv bislang nur als eines der neuen, suspekten Medien, bei denen meine Kinder anderen dabei zusahen, wie diese irgendwelche Trickfiguren in sinnlose Schlachten steuerten. Dabei liefen im Chat (der Dialogspalte) unverständliche Kommentare der Zuschauer. Speziell dieser Chat macht aber tatsächlich einen wichtigen Unterschied zu Youtube aus, wo Kommentare nur nachträglich eingestellt werden: Kann hier doch in Echtzeit eine Frage gestellt oder ein Zug vorgeschlagen werden und der „Streamer“ kann darauf direkt eingehen und antworten. Bei dem Twitch-Champ und Social Media-Schachweltmeister Hikaru Nakamura geschieht das eher selten. Zu schnell rauschen die Textzeilen seiner Tausenden von Live-Zuschauern durch. Ganz anders in den „kleineren Runden“. Da ergeben sich manchmal richtige Gespräche. Als die Chatgruppe von Großmeister Gata Kamsky ihr Wissen über den früheren Weltmeister Alexander Aljechin (Angelsächsisch übrigens Ellekain genannt) zusammentrug, erwähnte ich dessen Neigung zu deutlich älteren Partnerinnen. Darauf sagte Kamsky auf meinen Lichess-Nickname anspielend: „Oh you are a real psychodoc.“


Gata Kamsky lebt derzeit in Straßburg und betätigt sich vorwiegend online.

Twitch-Streamer verdienen ihr Geld nicht nur mit Werbung vor der Übertragung, sondern durch Abonnements. Diese kosten 5 Euro/Monat. Da Twitch zu Amazon-Gaming gehört, hat jeder Amazon-Prime-Kunde ein Abo monatlich kostenlos. Frei zu sehen sind die Streams (Liveübertragungen) alle. Für Abonnenten gibt es Zusatzfeatures, meistens die Möglichkeit, gegen die Streamer zu spielen. Bei Kamsky, der immerhin mal zu den fünf besten Spielern der Welt gehörte, ist das jede Woche ein Simultan sowie ein thematisches Trainingsturnier mit wechselnden, vorgegebenen Eröffnungen und ein Chess960 Turnier. Dazu kommen auch hier in unregelmäßigen Abständen „Streamerbattles“ und das Angebot, ihn zum Blitzen herauszufordern.


Hier die Streamer-Battle Kamsky gegen Jobava, bei der ich mitspielte und – weil Jobavas Team zu wenig Spieler meines Ratings hatte – zu ihm wechselte. Dabei gewann ich auch noch, so dass mein eigentliches Team, also das von Kamsky verlor. Dumm gelaufen…
Die Qualität von Kamskys Analysen als Kommentare zu Großmeisterpartien und auch nur während der Blitz- und Simultanpartien sind außergewöhnlich gut und sehr lehrreich. Gerade bei positionellen Fragen und Endspielen kann man sehr viel lernen. Ich selbst finde den Preis für dieses Angebot (eine Simultanpartie für 1,25 €!) sogar fast peinlich günstig, aber man kann auch während der Streams etwas spenden.

https://www.twitch.tv/igmgatakamsky


Kamsky wirkt mitunter etwas „grantelig“, wie man in Süddeutschand sagen würde. Besonders deutlich wird das, wenn er Gegner in Verdacht hat, elektronisches Doping zu betreiben, also mit Hilfe eines Computerprogramms zu „cheaten“. Tatsächlich kommt das beim „Titled Tuesday“, wo er an einem Turnier für Titelträger teilnimmt, leider nicht allzu selten vor. Dort trumpfen mitunter Fidemeister mit einer Genauigkeit von 97 % in dreiminütigen Blitzpartien auf. Wären das reelle Ergebnisse, könnten sie es damit unter die Top 100 der Welt schaffen…
Ein spektakulärer Spielstil zieht automatisch mehr Publikum an. Der internationale Meister Eric Rosen spielt fast ausschließlich fragwürdige, aber interessante Gambits gegen seine Unterstützer. Der harmlos wirkende US-Amerikaner mit den traurigen Augen und einer sanften Stimme, mit der sich eine Yoga-Asana noch besser als das Stefford-Gambit erläutern ließ, beginnt so kaum eine Partie ohne Bauernvorgabe oder wildem Bauernvorstoß wie g4 oder h4.

https://www.twitch.tv/imrosen


Im Wettbewerb der vielen Schachmeister und Streamer auf Twitch sind Mehrfachbegabungen natürlich hilfreich. So unterhält die aus der Ukraine stammende und in Deutschland lebende AngelikaChessborn ihr Publikum in den Pausen zwischen den Partien mit Gesang.

https://www.twitch.tv/angelikachessborn


Musik und Schach passen gut zusammen, wie auch AngelikaChessborn belegt.


Ein anderes Phänomen ist der georgische Großmeister Baadur Jobava. Auch er pflegt einen spannenden, aggressiven Spielstil. Während der meisten Blitzpartien tanzt James Blunder, wie er sich auf Twitch nennt, vor der Kamera zu flotter Musik, von Hiphop bis Metal. Dabei verströmt er eine so ansteckend gute Laune, dass er als ideales Gegenmittel für jede Lockdown verstärkte saisonale Depression wirkt: https://www.twitch.tv/jamesblunder


Großmeister Baadur Jobava macht mehr Stimmung als mancher Discjockey.


Auch auf Twitch gibt es Kurioses zu bestaunen. So treten dort einige junge Damen auf, deren Talent für die eigene Figur deutlich stärker ausgeprägt ist als ihre Fähigkeiten beim Zug der Figuren auf dem Brett. Mit ihren ansprechend geschnürten Dekolletés könnten sie auch auf dem Oktoberfest reüssieren. Da sie speziell uns Ärzten aber weder schachlich noch anatomisch Interessantes zu bieten haben, sei darauf nicht weiter eingegangen.


Besonders beliebt sind bei den zahlenden Abonnenten die Simultanveranstaltungen. Kann man doch hier selbst gegen einen Großmeister, manchmal gar eine Legende, antreten. In der Regel erhält man ca. 30 Minuten Bedenkzeit plus Inkrement, also z.B. für jeden absolvierten Zug weitere zehn Sekunden. Damit ähnelt das schon fast einer „normalen“ Partie am Brett. Natürlich sieht der Großmeister, der doppelt so viel Bedenkzeit (bei 30 Gegnern) hat, in drei Sekunden mehr als unsereiner bei minutenlangem Nachdenken. Aber man ist nicht ganz chancenlos. Ein knappes Drittel der Partien gewinnt z.B. Kamsky im Schnitt nicht. Er verliert sehr wenig, aber ein Remis ist bei genauem Spiel doch manchmal erreichbar. Wenn sich der Simultanspieler bei der Bedenkzeit grob verkalkuliert, und er dann die Mehrzahl der Partien durch Zeitüberschreitung verliert, wie es The Big Greek schon mal passierte, ist das auch für seine Gegner nicht wirklich befriedigend.


Bei meinen eigenen Simultanteilnahmen steht es nach vier Partien zwischen Gata Kamsky und mir durch etwas Glück 2:2. In der ersten Begegnung hoffnungslos unter die Räder geraten, endeten Spiel 2 und 4 umkämpft im remis. In der dritten Partie hatte ich in einer wilden, völlig inkorrekten Variante eine Qualität verloren. Mit dem letzten Zug Th1-b1 wollte ich dem vorwitzigen Springer den Weg aus der Ecke erschweren und zugleich auf der siebten Reihe im Trüben fischen. Verständlich, dass Schwarz meine Dame aus der Nähe seiner Königsstellung vertreiben will, aber der letzte Zug Ta8-e8?? war ein „big blunder“, der sofort verliert. Alle Kollegen, die an den online-Turnieren des Ärzteschachs teilnehmen, werden das sicher schnell sehen. Wo wir dabei sind, falls sich jemand noch nicht angemeldet hat, hier noch einmal der Link zum Team: 

https://lichess.org/team/arzteschach.

Kleiner Hinweis: Tb1 gefiel mir auch deshalb so gut, weil sich aufgrund des gleichen Motivs ihm kein schwarzer Turm entgegenstellen kann.

Lösung: Dxe8! Gewinnt einen Turm, weil nach dem Schlagen der weißen Dame durch den Turm die schwarze Dame nicht mehr durch die Fesselung auf der f-Linie vor dem Schlagen geschützt ist.